Plötzlich verspürte sie einen stechenden Schmerz in der Lunge. »Aus den Tonnen ist was ins Wasser ausgelaufen!«, keuchte sie. In ihrem Mund war auf einmal ein scharfer, metallischer Geschmack.
Erschrocken zog er sie ein Stück zurück.
»Wir müssen hoch zu dem Schiff, von dem die Tonnen heruntergeworfen werden«, drängte sie ihn. »Diese Leute müssen aufgehalten werden«, quetschte sie hevor und merkte, wie ihr das Atmen immer schwerer fiel. Das Gift drang unaufhaltsam über die Kiemen in ihren Körper ein …
Zu Hause[]
Alea stand am Bug der Crucis. Das urige Segelschiff ächzte leise, und Alea hatte fast den Eindruck, es freue sich, dass seine Besatzung zu ihm zurückgekehrt war, und als seufzte der alte Kahn wohlig vor sich hin. Die Alpha Cru war endlich wieder an Bord. Gefühlt waren sie eine halbe Ewigkeit fort gewesen – in Sankt Goarshausen, in Venedig und auf all den vielen Straßen dazwischen. Doch nun begann ein neues Kapitel ihrer Reise.
Die Crucis hatte gut vertäut in einem kleinen Hafen in der Nähe von Rom zwischen rustikalen Fischerbooten und schicken Katamaranen auf sie gewartet. Gerade erst ein paar Minuten war es her, dass Alea und die Alpha Cru ihr Schiff wieder betreten hatten. Zuvor waren sie mit einem »geliehenen« blauen Kombi durch halb Italien gebraust. Dieses Auto, das die Darkonerin Siska ihnen organisiert hatte, stand inzwischen auf dem Parkplatz der hiesigen Verleihniederlassung. Sie hatten es einfach dort abgestellt und waren zu Fuß zu dem kleinen Hafen spaziert. Sobald die Crucis in Sichtweite gekommen war, hatten sie zu laufen begonnen, waren jauchzend zum Schiff gerannt und voll unbändiger Freude über die Außenleiter an Bord geklettert. Als Alea gleich hinter Tess über die Reling gestiegen war, hatte sie ihren schweren Rucksack auf den Boden sinken lassen und sich in einem großen, fedrig warmen Glücksmoment wiedergefunden. Der heimelige Geruch nach altem Holz, die knarrenden Planken unter ihren Füßen, das leise Klatschen der Wellen am Rumpf … Hier auf der Crucis war sie zu Hause.
Ohne Umwege war Alea zum Bug geeilt. Sie liebte es, auf dem Schiff ganz vorn zu stehen und aufs Meer zu schauen. Aber anstatt das zu tun, richtete sie ihren Blick nun aufs Deck, denn sie fand es sogar noch schöner, die anderen Mitglieder der Alpha Cru beim Heimkommen zu beobachten.
Ben Libra, ihr Skipper und Fels in der Brandung, betrat gerade das Deckshäuschen und ließ die Hand wie zum Gruß über das große hölzerne Steuerrad gleiten. Alea sah durch die Scheiben, dass er genüsslich einatmete, als wollte er den Duft des kleinen Raumes tief in sich aufnehmen. Auf seinen Lippen machte sich ein seliges Lächeln breit. An Bord der Crucis sehen alle Cru-Mitglieder immer ein kleines bisschen glücklicher aus als anderswo, dachte Alea. Ben besonders. Er strahlte von innen heraus, und Alea betrachtete ihn ungeniert. Ben war braun gebrannt, hatte wache blaue Augen und eine grandiose Rockstarfrisur, die auch bei Wind und Wetter so gut saß, dass er jederzeit auf dem Cover eines Seglermagazins hätte landen können. Vor allem jedoch strahlte er.
Aber taten das die anderen nicht auch? Alea ließ den Blick schweifen. Tess Taurus, ihre französische Piratenrockprinzessin, war gerade damit beschäftigt, die Decksplanken mit einem alten Reisigbesen zu fegen. Und selbst, wenn sie sich dabei bücken musste und ihr die langen schwarzen Dreadlocks ins Gesicht fielen, war ihre Haltung von Stolz und Unbeugsamkeit geprägt. Ja, auch Tess strahlte. Aleas Lächeln vertiefte sich, denn auf Tess’ Schulter saß eine pummelige kleine Möwe – Tante Hildegard. Der Vogel hatte Tess ein breites Grinsen ins Gesicht gezaubert, als er gleich nach ihrer Ankunft herangeflattert gekommen war und nur darauf gewartet zu haben schien, endlich wieder auf der Schulter seines Lieblingsmenschen Platz nehmen zu können.
Aleas Herz schlug höher, als ihr Blick weiterwanderte. Dort drüben stand Lennox, der das Schiff gerade einer genauen Gefahrenüberprüfung unterzog. Lennox Scorpio war ihr Freund, ihr boyfriend, in den sie auch nach unzähligen gemeinsam erlebten Abenteuern noch immer Hals über Kopf verliebt war. Lennox trug seine schwarze Lederjacke, das dunkle Haar hing ihm tief in die Stirn, seine azurblauen Augen blitzten, und Alea hätte ihm am liebsten noch viel länger zugesehen, allerdings zog etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Samuel Draco, der Bandenjüngste, stand in der Mitte des Decks. Er war barfuß und trug einen neuen Piratenhut, unter dem seine wilde rote Mähne hervorquoll. Sein sommersprossiges Lausbubengesicht blickte am Hauptmast empor, seine Hand lag auf dem Baum, und Alea hörte ihn sagen: »Ahoi, du holde Schönheit! Holzschönheit. Holdes Holz!« Ganz offensichtlich meinte er die Crucis. »Venedig war wunderbärchen, aber es gibt keinen besseren Ort als dich, das steht mal fest. Du bist meine Veranda des Meeres, oh du meine Cruceline, Mutterschoß meines Abenteurerherzens, sicherer Hafen in den Stürmen des Lebens –«
Da bekam er eine Kopfnuss von Tess. »Frag das Schiff jetzt bloß nicht, ob es eigentlich weiß, dass du total in es verliebt bist!«
Ein Lächeln kringelte sich in Sammys Mundwinkel. Anscheinend hatte er das wirklich fragen wollen. »Schon gut«, wehrte er grinsend ab. Dann richtete sich sein Blick auf die Möwe. »Das ist nicht fair!«, rief er unvermittelt. »Tante Hildegard hat hier auf dich gewartet und wahrscheinlich tagelang auf dem Mast gesessen und nach dir Ausschau gehalten. Aber wo ist Fussel?« Fussel Fuhrmann war eine Ringelrobbe, die Sammy in Norwegen vor dem Tod bewahrt hatte und die seitdem zu seinem innig geliebten Kameradentier geworden war.
Sammy ließ den Mastbaum los, ging mit sehnsüchtiger Miene zur Reling und zog eine Pfeife aus seiner Hosentasche – eine magische Trillerpfeife aus der Meermenschenwelt, mit der man seine persönliche Robbe rufen konnte. Er pustete hinein, und ein durchdringender hoher Ton erklang.
Von Achtern drang ein qualvolles Stöhnen herüber. Siska, das Darkonermädchen, hatte ein wahnsinnig feines Gehör, und schrille Töne wie dieser bereiteten ihr Schmerzen.
Sammy fuhr zusammen. »Oh, das tut mir leid! Ich hatte gar nicht auf dem Schirm, dass du dahinten stehst.«
Siska winkte ab, ihr Gesicht war allerdings schmerzverzerrt.
»Ich benutze die Pfeife nicht noch mal, wenn du in der Nähe bist, Sista Siska.« Geistesabwesend schaute Sammy aufs Meer. »Wir sind jetzt schon mindestens zehn Minuten an Bord, und Fussel ist noch nicht aufgetaucht!«
»Sie ist bisher immer zurückgekommen«, rief Alea ihm zu. »Über kurz oder lang wird sie wieder da sein.«
»Na gut.« Sammy pustete sich eine rote Strähne aus den Augen. Seine Haare waren inzwischen so lang, dass er sich fast einen Zopf machen konnte. »Der bestmögliche Ausgang der Dinge ist ja immer der wahrscheinlichste, deswegen gehe ich jetzt mal bestmöglich vom Wahrscheinlichsten aus: Fussel kommt bald zurück.«
Tess verdrehte die Augen und machte sich wieder daran, das Deck zu fegen. Ben vertiefte sich im Deckshäuschen ins Logbuch, und Lennox kletterte mit federnden Bewegungen am Mast hoch – vermutlich, um nach Störgeräten, Peilsendern oder Ähnlichem zu suchen. Immerhin hatten sie Feinde, und man wusste ja nie …
Alea ging zu Siska hinüber, die sich noch immer die Ohren rieb. Die Darkonerin war groß, schlank und hatte nachtschwarze Haut, die in Kombination mit ihren leuchtend hellen Augen geradezu übernatürlich wirkte.
»Soll ich dir mal den Salon und die Kajüten zeigen?«, fragte Alea.
Siska nickte sofort. Bestimmt war sie neugierig darauf, das Schiff, über das sie schon so viel gehört hatte, besser kennenzulernen. Alea ging zur Bordtür und stieg, dicht gefolgt von Siska, die wenigen Treppenstufen hinab in den Bauch der Crucis. Hier unten war es urgemütlich. Rechter Hand lag eine kleine Kochnische mit Herd, Vorratsschränken und Waschmaschine. Linker Hand befand sich ein Minibad mit Toilette, Waschbecken und Dusche. Weiter geradeaus ging es in den Salon, und dort versprühten das Sesseleckchen mit dem alten Laptop, ein dicker Teppich und zwei Sofas eine herrlich behagliche Atmosphäre.
»Wow«, murmelte Siska und sah sich aufmerksam um. »Wonderbeary«, schickte sie etwas unbeholfen nach, was ein Insiderwitz und eine grottenschlechte Übersetzung von Sammys Lieblingswort wunderbärchen war.
Alea honorierte Siskas Scherz mit einem breiten Grinsen.
»Hier fühlt man sich gleich wohl.«
»So was von«, stimmte Alea zu und führte die Darkonerin durch den Salon zu den Kajüten. Links war die von Ben und Sammy und rechts die von ihr und Tess. Bei beiden handelte es sich um winzige Räume, in denen jeweils ein Stockbett mit zwei Kojen stand. Es gab in den Kajüten zwar Einbauschränke, aber auch die waren winzig, und so herrschte in beiden Zimmern ständig Unordnung.
Siska schien sie dennoch toll zu finden. »Ihr habt wirklich ein ganzes Schiff für euch allein. Das ist der Wahnsinn!« Ihre Stimme klang eine Spur schuldbewusst, als sie hinzufügte: »Allerdings ist hier wirklich ganz schön wenig Platz, und durch mich wird es noch enger.«
Alea hörte Schritte auf den Bordstufen. Die anderen kamen nach unten. »Wo soll Siska eigentlich schlafen?«, fragte Sammy, sprang mit einem Satz die Treppe hinab, hüpfte an der Badtür vorbei und landete auf dem Teppich im Salon.
»Ich kann irgendwo auf dem Boden schlafen.« Verlegen verschränkte Siska die Hände hinter ihrem enorm aufrechten Rücken. »Das ist wirklich kein Problem.«
»Kommt gar nicht infrage!«, widersprach Alea. »Du kriegst meine Koje in der Mädchenkajüte. Ich schlafe einfach bei Lennox auf der Couch.« Ihr entging nicht, dass Lennox’ Augen angesichts dieses Vorschlags aufleuchteten.
Tess machte hingegen ein Gesicht, als ob sie es schade fand, dass Alea bei ihr auszog. Gleichzeitig verstand sich die Französin sehr gut mit Siska. »Bien«, stimmte sie zu. »Meinetwegen gern.«
Sammy zog die Nase kraus. »Es muss aber trotzdem noch Platz bei dir sein, Schneewittchen!«, wandte er ein. »Nur weil Lennox dein Yavani ist, darf das nicht bedeuten, dass andere nicht auch bei dir schlafen dürfen. Ich zum Beispiel! Ich hab nachts oft kalte Füße und muss sie irgendwo aufwärmen können.«
Mittlerweile standen sie alle im Salon. Lennox hörte Sammy mit schief gelegtem Kopf zu.
»Ich hab sogar schriftlich, dass ich trotz großer Scorpio-Liebe weiter bei Schneewittchen im Bett schlafen darf!«, behauptete Sammy und trabte in die Jungenkajüte, offenbar, um etwas zu holen.
Alea runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so etwas unterschrieben zu haben.
Gleich darauf kehrte Sammy in den Salon zurück, in der Hand einen Zettel. »Dritter Juli«, las er vor. »Auch wenn Alea mit Lennox zusammenkommen sollte, darf ich bei ihr schlafen, wann immer ich will. Unterzeichnet: Samuel Draco.«
Tess gab ein Stöhnen von sich.
Alea grinste.
»Seht ihr?« Sammy wedelte mit dem Zettel. »Ich hab es schriftlich! Das habe ich schon vor Wochen aufgeschrieben, als Sir Scorpio neu an Bord war.«
Ben verpasste ihm nun seinerseits eine Kopfnuss. Allerdings grinste auch er.
»Sehr interessant«, bemerkte Alea und wollte sich den Zettel genauer ansehen. »Gib mir das mal«, bat sie Sammy.
Bevor er ihr das Stück Papier aber überreichen konnte, riss Lennox es ihm aus der Hand und gab es Alea.
Entgeistert guckte Sammy ihn an. »Sag mal … alles klar bei dir, Scorpio?«
Lennox verzog den Mund.
Alea begriff und presste erschrocken die Lider zusammen. Der Herrinnenschwur! Sie hatte im Imperativ gesprochen. Das bedeutete, Lennox hatte ihr diesen Zettel nicht geben wollen, sondern es tun müssen. Denn seit er Alea den Herrinnenschwur geleistet hatte, war er dazu gezwungen, alles zu machen, was von ihr in der Befehlsform gesagt wurde.
Alea biss sich auf die Unterlippe. Es tat ihr wahnsinnig leid, dass ihr dieser Satz herausgerutscht war, obwohl sie sich vorgenommen hatte, ganz genau auf ihre Formulierungen zu achten. Entschuldigend blickte sie Lennox an. »Tut mir leid.«
Jetzt verstanden auch die anderen, was passiert war. Tess gab ein tiefes Brummen von sich, und Sammy murmelte: »Diese Hälfte des Schwurs ist so dermaßen gruselig …« Er schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Horrorfilme in der Geisterbahn zu gucken, wäre ein Kaffeekränzchen dagegen.«
Unbehaglich strich Alea sich eine Strähne ihres langen dunklen Haars hinters Ohr. Sammy hatte recht. Diese Hälfte war einfach fürchterlich. Und die andere Hälfte – die Superkräfte, die der Herrinnenschwur Lennox verliehen hatte –, war nur ein kleiner Trost.
Lennox atmete geräuschvoll durch. »Ist schon okay«, schwächte er die Sache ab und schenkte Alea ein Lächeln, das seine Worte mit Wärme füllte. Er schien zu verstehen, dass es für sie schwierig war, jedes ihrer Worte genau zu bedenken. Er hatte sie auch nie darum gebeten. Alea war sich jedoch schmerzlich bewusst, dass der Herrinnenschwur ihre Beziehung jederzeit wieder in eine Krise stürzen könnte, wie es erst vor Kurzem geschehen war.
Ben sagte nun pragmatisch: »Siska bekommt Aleas Koje. Und Sammy, du schläfst bei mir in der Jungenkajüte. Basta.«
Sammy zog einen Flunsch.
»Mach dir nichts draus.« Tröstend legte Alea ihm die Hand auf den Arm. »Und hier – für deine Unterlagen«, sagte sie und gab ihm dankend seinen Zettel zurück.
Mit einem tiefen Seufzer steckte Sammy das Stück Papier ein und verkrümelte sich ohne weiteren Kommentar an Deck.
Schulterzuckend wandte Tess sich Siska zu. »Dann sind wir jetzt Kajütenschwestern, Sis«, hielt sie lächelnd fest.
Siska lächelte schräg zurück – ihr rechter Mundwinkel bog sich in die Höhe, während der linke unten blieb.
»Komm, wir versuchen mal, ein bisschen aufzuräumen«, schlug Tess vor, und die beiden verschwanden in der Mädchenkajüte.
Lennox und Ben machten sich nun daran, ihre Reiserucksäcke auszupacken, und da Alea lieber nach Sammy schauen wollte, verließ sie den Salon und folgte dem Drachen hinauf an Deck. Er saß auf einer der Deckskisten und nahm anscheinend einen Eintrag für das Bandentagebuch auf. Dieses Tagebuch war eine Art Audioerzählung ihrer Erlebnisse, die Sammy in Form von Sprachmemos für die Nachwelt festhielt. Als Alea neben ihm Platz nahm, erklärte er gerade in Hörbuchsprechermanier den Herrenschwur: »Dieser Schwur entstammt dem Gruselkabinett des Aquilius Orion. Vor Jahren brachte der fiese Doktor die Elitetruppe der Meermenschenpolizei – etwa zwei Dutzend Darkoner unter der Führung von Oberhauptkommissar Zeirus – dazu, ihm einen Treueschwur zu leisten. Insgeheim verabreichte er ihnen dabei ein Serum, durch das er die Fähigkeiten der Darkoner um ein Krassfaches verstärkte und sie zu Superkriegern machte, die obendrein alles tun müssen, was er will. Denn Teil der genetischen Veränderung ist, dass sie ihm bedingungslos hörig sind. Der Doc hat dasselbe übrigens mit Scorpio machen wollen, aber der hat ihn ausgetrickst und stattdessen Alea den Schwur geleistet.«
Sammys Blick suchte Aleas. Sie lächelte matt, denn trotz aller Probleme mit dem Herrinnenschwur war sie natürlich froh, dass Lennox es geschafft hatte, Orion einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Als Sammy weitersprach, sah er Alea unumwunden an. »Schneewittchen hasst es, dass Scorpio alles tun muss, was sie sagt.«
Wie von selbst klappte Aleas Mund zu, als wollte er sich sicherheitshalber verschließen.
Sammy brachte ein kleines Stöhnen hervor. »Vor Kurzem entstand durch den Schwur eine äußerst brisante Situation: Am Meeresgrund begegneten wir der Nixe Mura …« Er stockte und schien sich nicht sicher zu sein, ob er weiterreden sollte.
Alea nickte ihm zu. Es war äußerst sinnvoll, die Ereignisse in Form dieses Bandentagebuchs festzuhalten. Auch wenn es dabei manchmal um sehr persönliche Dinge ging, die man eigentlich am liebsten für sich behalten wollte.
Mit bedächtiger Stimme sprach Sammy weiter: »Mura hatte es auf Aleas Leben abgesehen. Lennox Scorpio, der Krieger der Elvarion, tat natürlich alles, um Alea zu beschützen, und es kam zu einem erbitterten Kampf zwischen ihm und der Nixe. Es stellte sich heraus, dass Lennox Mura durch seine neuen, bis zum Gehtnichtmehr maximierten Oblivionenfähigkeiten überlegen war und sie hätte töten können. Alea gab ihm allerdings den Befehl, die Nixe loszulassen – obwohl das nicht das war, was Lennox tun wollte. Aber wegen des Herrinnenschwurs blieb ihm keine Wahl, und er musste gehorchen.«
Alea schloss die Augen, als könnte sie damit den Bildern entwischen, die in ihrer Erinnerung heraufstoben. Ihr wurde beinahe übel, wenn sie daran dachte, wie wütend Lennox nach diesem Vorfall auf sie gewesen war. Wütend und maßlos enttäuscht, denn sie hatte ihm doch versprochen, den Schwur niemals gegen seinen Willen einzusetzen.
Sammy nahm weiter auf. »Als Mura gerade einen Fluch aussprechen wollte, griff Prinz Cassaras höchstpersönlich ein und tötete die Nixe mit einem Pfeil.« Seine Stimme wurde mit jeder Silbe leiser. Das Ganze mit ansehen zu müssen, war für ihn schrecklich gewesen. »Wenn Cassaras nicht so schnell reagiert hätte, wer weiß, ob wir dann jetzt nicht alle verflucht wären …«
Alea öffnete die Augen wieder und bemerkte, dass Sammy die Aufnahme gestoppt hatte. »Das ist nicht als Kritik an deiner Entscheidung gemeint! Also an der, dass Lennox Mura loslassen sollte«, erklärte Sammy ernst. »Ich wollte damit nur sagen, wir können verdammt froh sein, dass Cassaras da war und getan hat, was er getan hat.«
Alea vergrub die Hände in den Hosentaschen und fühlte noch einmal die ganze Last der Situation auf ihren Schultern. »Cassaras hat auf sich genommen, was ich Lennox nicht zumuten wollte.« Sie ließ die Worte einen Augenblick lang stehen, denn sie wogen schwer. »Das werde ich dem Prinzen niemals vergessen. Wie viele andere Dinge. Ohne ihn wären wir …«
»Flappende Fische in der Pfütze«, sagte Sammy.
»Was?«
»Cassaras sorgt immer wieder dafür, dass wir ins tiefe Wasser kommen und schwimmen können.«
Damit rang er Alea ein klitzekleines Lächeln ab.
»Aber in welche Richtung wir dann schwimmen, das entscheidest du«, fügte Sammy hinzu. »Du bist die Elvarion – die Anführerin der überlebenden Meerkinder –, und du hast bisher noch nie falsch entschieden.«
Da war sich Alea nicht so sicher.
»Du hast uns bis hierher gebracht. Und von hier aus können wir alles schaffen.«
Alea antwortete nicht, sondern starrte ins Leere.
»Musst du darüber nachdenken?«, fragte Sammy, der Alea verdammt gut kannte. Alea war eine richtige Grübeltante, und wahrscheinlich merkte Sammy ihr an, dass sich zu diesem Thema jede Menge Grübelstoff in ihrem Kopf angesammelt hatte, der durchgekaut werden wollte.
Spielerisch stupste sie ihn an. »Ist das so offensichtlich?«
»Yep!« Sammy lachte. »Du hast so eine Falte zwischen den Augenbrauen, und die bedeutet, dass du dringend an den Bug musst.«
Nirgendwo stand Alea lieber, um sich in ihre Gedanken zu vertiefen, und soeben hatte sie keine Zeit dafür gehabt. »Dann gehe ich besser mal«, erwiderte sie, strich Sammy dankend über den Arm und schlenderte zum Bug hinüber. Es war bereits Abend, und ein rot-goldener Sonnenuntergang versprühte seinen Zauber am Horizont. Doch noch faszinierender als das Himmelsspektakel fand Alea die Farben des Meeres, die sie als Walwanderin nicht nur erkennen, sondern deren Botschaft sie deuten konnte. Das Meer lag ruhig da, geprägt von einem tiefen, kühlen Blau, auf dessen glatter Oberfläche sich nur vereinzelt Formen und Farbknäuel bildeten. Heute war in diesen Wassern nicht viel geschehen.
In den vergangenen Tagen hatte Alea viel über ihre Rolle als Elvarion nachgedacht, und Sammys Bemerkung, sie hätte noch nie falsch entschieden, traf sie an einem empfindlichen Punkt. Hatte sie das wirklich nicht? Und selbst, wenn dem tatsächlich so war – wer konnte sagen, ob es nicht irgendwann doch noch geschehen würde? Auf ihr lastete eine derart große Verantwortung, dass sie es sich nicht leisten konnte, Fehler zu machen. Immerhin wollte sie nicht weniger schaffen, als die Ozeane wieder in einen lebenswerten Ort zu verwandeln, sodass die Meerkinder in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren konnten. Aber um das zu erreichen, mussten sie Doktor Orions Virus unschädlich machen und sein Netzwerk aus Gretzern zerschlagen, die mit illegalen Giftmüllverklappungen die Ozeane verpesteten. Zum anderen konnte die Meerwelt niemals in voller Pracht neu entstehen, wenn die Umweltverschmutzung die Gewässer derart akut bedrohte wie jetzt.
Die Größe dieser Aufgabe war schier erdrückend. Bevor Alea jedoch von der Vorstellung überwältigt werden konnte, atmete sie bis in den Bauch hinein, so wie Tess es ihr beigebracht hatte, spürte die Kraft ihres Atems und behielt ihre Gedanken im Auge. Diese Methode hatte ihr schon oft geholfen, und sie wirkte auch dieses Mal. Trotz aller Selbstzweifel wusste sie tief in sich, dass sie dafür geboren war, die Elvarion der letzten Generation zu sein. Sie hatte die Fähigkeiten dazu, wenn sie sich auch manchmal schwertat. Doch sie wollte mit ganzem Herzen versuchen, ihr Schicksal zu erfüllen. Und sie war nicht allein.
Wie aufs Stichwort hörte Alea die anderen näher kommen. Ben, Siska, Lennox und Tess hatten offenbar gerade am Hafen das Abwasser entsorgt und die Tanks mit Frischwasser aufgefüllt. Wie lange stand sie schon hier? Die Sonne hatte ihren Abendzauber fast beendet. Wind war aufgekommen.
Lennox trat an Alea heran und küsste ihre Schläfe. »Alles in Ordnung?«
Kurz drückte Alea ihre Stirn gegen sein Kinn. »Alles gut«, antwortete sie und schenkte ihm ein Lächeln.
Ben reckte die Nase in den Wind und sah zu den sorgsam eingerollten Segeln der Crucis hinauf. »Wir sollten ablegen und weiter draußen vor Anker gehen. Hier im Hafen ist es zwar nett, aber Scorpio, du solltest das Schiff so schnell wie möglich mithilfe der Skorpionfische tarnen« – er blickte zu Lennox – »und getarnt im Hafen vertäut zu sein, ist gefährlich, weil andere Schiffe mit uns kollidieren könnten.«
Das war allen Cru-Mitgliedern klar. Wahrscheinlich erklärte Ben es vor allem für Siska, die zum ersten Mal an Bord eines Schiffes war.
Ihr Kapitän stampfte zweimal mit dem Fuß auf die Planken. Für alle, die sich unter Deck befanden, war dies das Zeichen, heraufzukommen.
Sammy stürmte durch die Bordtür. »Legen wir ab?« Er rieb sich die Hände. »Soll ich den Motor anwerfen?«
»Mach das«, erwiderte Ben. »Aber sobald wir ein Stück vom Hafen weg sind, hissen wir die Segel.« Das war sicherlich eine kluge Entscheidung, denn der Wind stand gut und würde sie im Handumdrehen ein ganzes Stück aufs Meer hinausbefördern.
Während Lennox die Leinen losmachte und Sammy zum Motor wetzte, flatterte Tante Hildegard zum Masttop auf und schaute herab, als müsste sie die Alpha Cru bei ihrer Arbeit genau im Blick behalten.
Sobald Sammy den alten Motor zum Knattern gebracht hatte, entfernte sich die Crucis langsam tuckernd vom Kai. Alea schaute zu Ben. Er war ins Deckshäuschen zum Steuerrad geeilt und lenkte das Schiff an den Katamaranen und Fischerbooten vorbei aus dem Hafen. Jetzt wies er Alea und Tess mit einem Handzeichen an, sich am Vorsegel in Position zu bringen. Gleich war es so weit. Auf Bens Kommando hin stellte Sammy den Motor ab und kam zu ihnen geflitzt. Rasch bedeutete Ben Siska, den anderen einfach zuzusehen. Aufmerksam warteten Tess und Alea am Vorsegel auf Bens Anweisung. Sammy und Lennox, der sich zu dem Bandenjüngsten gesellt hatte, standen am Hauptsegel.
»Klar zum Setzen!« Ben machte das zugehörige Handzeichen.
»Aye, aye, Käpt’n!«, rief die Alpha Cru im Chor.
Gemeinsam zogen Alea und Tess am Fall ihr Segel hoch, anschließend machten sie sich an die Fock. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis sich das große Vorsegel der Crucis hoch über ihre Köpfe erhob und im Wind blähte, als hätte es nur darauf gewartet, endlich wieder gehisst zu werden. Lennox und Sammy zogen derweil mit vereinten Kräften am Fallseil des Hauptsegels, bis sich auch dieses in die Luft erhob. Die Alpha Cru war ein eingespieltes Team, und gemeinsam funktionierten sie wie ein Uhrwerk.
Mit großen Schwüngen drehte Ben am Steuerrad und stellte sicher, dass das Schiff gut im Wind lag. Ihr uriges Boot knarrte und knarzte und rauschte unter vollen Segeln durch die blauen Wasser. Schaumkronen tanzten unter den letzten Sonnenstrahlen auf den Wellenkämmen. Der Wind zerzauste Aleas Haar und wehte es ihr ins Gesicht, sodass sie kaum noch etwas sehen konnte. Doch sie lächelte.
Wolf[]
Als Alea am nächsten Morgen erwachte, brauchte sie einen Augenblick, um sich zu orientieren. Sie lag auf der Schlafcouch im Salon. Rechts neben ihr schlief Lennox, links neben ihr hatte sich Sammy an sie herangeschmust. Alea erinnerte sich dunkel, dass der kleine Kuschelkönig irgendwann in der Nacht zu ihnen unter die Decke gekrochen war, um seine Füße zwischen Aleas Waden aufzuwärmen. Allerdings hatte sie das kaum richtig mitbekommen, denn sie war von einem intensiven Traum ergriffen gewesen, in dem ihre Zwillingsschwester Anthea gemeinsam mit ihr durch die Tiefen des Meeres geschwommen war, geleitet und begleitet von mystisch schönem Walgesang.
Als sich Alea nun zwang, vollständig aufzuwachen, klang der Gesang der Wale noch zart in ihr nach, und sie hatte das Gefühl, ihre Sehnsucht nach ihrer Schwester schien sich in den lang gezogenen Tönen regelrecht zu manifestieren. Als ihr Blick auf Theas Rucksack fiel, den Lennox von Sankt Goarshausen bis hierher geschleppt hatte und der jetzt in einer Ecke des Salons stand, als warte er nur auf seine Besitzerin, versetzte es Alea einen Stich. Plötzlich vermisste sie ihre Schwester so sehr, dass es ihr fast das Herz zerriss. Sie presste die Hand auf ihre Brust. Thea befand sich in Gefangenschaft von Doktor Orion, und obwohl Alea wusste, dass es ihr dort einigermaßen gut ging, war der Gedanke daran einfach kaum zu ertragen. Der Doktor hatte Thea in der Zwischenzeit bestimmt in ein neues geheimes Lager gebracht, und Alea hätte nichts lieber getan, als danach zu suchen. Aber von der Talassiopa – der Hüterin der Zeit – hatten sie erfahren, dass sich die Alpha Cru bei der Suche nach diesem Versteck zurückhalten sollte. Offenbar war es die Aufgabe der magischen Völker, sich auf Orions Spur zu begeben und sich zu diesem Zweck zusammenzuschließen. Alea wusste, dass bereits einige Magische zusammenarbeiteten und dem Doktor gemeinsam auf den Fersen waren. Dabei hatten sie wohl schon gute Erfahrungen miteinander gemacht, und das war ein Meilenstein in der Geschichte der Meerwelt, denn die magischen Völker waren allesamt eigenbrötlerisch und hatten seit dem Verschwinden der Meermenschen kaum noch miteinander zu tun gehabt. Ihre Vereinigung war jedoch von großer Bedeutung, denn nur mithilfe einer Armee der Magischen hatte die Alpha Cru überhaupt eine Chance gegen Doktor Orion. Es ergab also Sinn, dass nicht die Cru, sondern die Magischen ihn jagten. Und wenn sie ihn fanden, wäre auch Thea frei …
Der frühe Morgen drang mit gleißenden Sonnenstrahlen durch die Bullaugen in den Salon, und obwohl es inzwischen Mitte September war, lag bereits zu dieser frühen Stunde eine mediterrane Hitze in der Luft. Alea blieb still zwischen Lennox und Sammy liegen, die beide noch fest zu schlafen schienen. Der Gesang der Wale aus ihrem Traum war noch immer nicht verklungen, und Alea hatte eine Idee.
Kurzerhand schloss sie die Augen. Sie wollte versuchen, telepathischen Kontakt zu ihrer Schwester aufzunehmen, denn das hatte bereits zuvor funktioniert. Vor zwei Tagen hatte sie sich ausführlich – allein durch die Kraft ihrer Gedanken! – mit Thea unterhalten. Bei Telepathie war allerdings entscheidend, dass man nicht zu weit voneinander entfernt war. Wenn Thea sich nicht in der Nähe befand, kam kein Kontakt zustande. So auch jetzt. Alea rief in Gedanken nach ihrer Schwester, aber sie erhielt keine Antwort. Innerlich seufzte sie. Wie nah musste Thea eigentlich sein, damit es klappte? Nicht weiter als zehn Kilometer entfernt? Fünfzig? Alea nahm sich vor, den Meerjungen Evelin danach zu fragen. Er war schließlich Experte für telepathischen Kontakt, denn sein Stamm, die Adetari, waren in der Lage, Doppelgänger von sich zu erschaffen, mit denen sie telepathisch verbunden waren. Bestimmt wusste Evelin, innerhalb welchen Umkreises eine Verbindung möglich war. Alea überlegte. Vielleicht nahm sie Evelin heute eine Nachricht auf und fragte ihn. Mittlerweile war es bei den Meerkindern gang und gäbe, Sprachnachrichten auszutauschen und sich gegenseitig über alles auf dem Laufenden zu halten. Es hatten sich bereits zahlreiche Freundschaften gebildet, und die beiden Anschu Zuzana und Yasin waren sogar ineinander verliebt. Mit jedem Tag entstanden weitere Verbindungen, und das Gemeinschaftsgefühl wuchs. Alea wusste allerdings auch, dass die Meerkinder noch immer viele Fragen hatten, und schon länger hatte sie sich vorgenommen, eine weitere Videokonferenz mit allen zu machen, bei der sie auf sämtliche Fragen eingehen wollte. Das musste sie unbedingt bald einmal angehen, und wenn die Konferenz stattfand, war vielleicht auch Thea dabei, die endlich alle kennenlernen würde: Kit, Evelin, Nexon, Isla, Zuzana, Yasin, Mio, Ravenna, Fiona und so viele andere …
Die Vorstellung war so schön, dass Alea Tränen in die Augen stiegen. Thea war ein richtiger Wildfang, eine Rebellin durch und durch, und Alea konnte sich ihre Schwester in einer normalen Schulklasse kaum vorstellen. Aber neben einem Sonderling wie Evelin, einem sturköpfigen Oblivion wie Nexon oder einem schrägen Feuervogel wie Kit konnte Alea ihre Schwester vor ihrem inneren Auge in aller Selbstverständlichkeit vor sich sehen. Eines Tages. Eines Tages würden sie sich alle treffen.
Vorsichtig schlüpfte Alea zwischen Lennox und Sammy von der Couch und stand auf. Ihre Bauchtasche lag auf dem gegenüberliegenden Sofa. Lautlos huschte Alea hinüber und öffnete sie. In der Tasche befand sich einer ihrer größten Schätze: der Goldumhang der Schweige-Schamire, ein magisches Gewand, das Ereignisse aus der Vergangenheit in Form von »Filmen« zeigte. Mithilfe des Umhangs hatte Alea bereits Dinge zu sehen bekommen, die noch gar nicht lange her waren, und jetzt hoffte sie, einen Blick auf ihre Schwester erhaschen zu können. Zwar hatte die Talassiopa ihr gesagt, dass sie den Umhang nicht darum bitten sollte, ihr Theas Aufenthaltsort zu verraten, denn nach Orions Versteck zu suchen, war eben Aufgabe der Magischen. Alea ging es aber gar nicht um Hinweise auf den Schlupfwinkel, sie wollte lediglich sicher sein, dass es Thea weiterhin gut ging. Womöglich konnte der Umhang ihr etwas zeigen, das sie beruhigte.
Alea nahm das Gewand aus ihrer Tasche, und der seidige Stoff floss ihr wie flüssiges Gold durch die Hände. Leise zog sie ihn über ihre Schultern. Bitte zeig mir meine Schwester, sagte Alea in Gedanken und wagte kaum, zu atmen. Im nächsten Moment stiegen Bilder wie Umrisse aus Nebelschwaden vor ihrem geistigen Auge auf. Und tatsächlich – es war Thea, die sie sah! Alea schnappte nach Luft und konnte kaum glauben, dass der Umhang ihr die Bitte tatsächlich gewährte. Undeutlich sah sie einen Raum mit einem Bett und einem Schrank, kühl und geschmackvoll eingerichtet wie ein Hotelzimmer. Mit jeder Sekunde lichtete sich der Nebel jedoch immer mehr, und Alea erkannte in aller Deutlichkeit, dass es wirklich und wahrhaftig ihre Schwester war, an die die »Linse« des Umhangs heranzoomte. Thea saß an einem Wandtisch und starrte in den darüberhängenden Spiegel. Vor ihr stand ein Glas mit Wasser, in dem sich Eiswürfel befanden. Offenbar war es dort, wo sie sich befand, ebenfalls sehr warm.
Alea war ganz aufgeregt. Wann war das, was der Umhang ihr zeigte, geschehen? Thea sah genauso aus wie bei ihrer Begegnung in Sankt Goarshausen – sie hatte kinnlanges verwuscheltes Haar mit knalligen pinkfarbenen Strähnen. Waren das nicht derselbe Hoodie und dieselben engen Jeans, die sie auch dort getragen hatte? Ja, Alea war sich ganz sicher. Beides schien in der Zwischenzeit jedoch gewaschen worden zu sein.
Theas klargrüne Wandereraugen richteten sich auf etwas, das sie in der Hand hielt. Es war der Fotostein, den Alea ihr geschenkt hatte! Auf diesem magischen Stein waren sie beide als lachende schwimmende Babys zu sehen. Thea lächelte den Stein an, dann steckte sie ihn in ihre Hosentasche und blickte abermals in den Spiegel. »Hallo«, gebärdete sie. Thea war gehörlos und die Gebärdensprache ihre Muttersprache. Alea hatte in diesem Sommer einige Brocken gelernt, aber inzwischen war das nicht mehr ausschlaggebend, denn an einer Kette um den Hals trug sie einen Sprachstein. Die schneekristallgrünen Sprachsteine hatten sie von der Lafora Grarmathacht anvertraut bekommen – ein unfassbar wertvolles Geschenk, denn durch die Steine wurden sämtliche Verständigungsbarrieren aufgehoben. Trug man einen bei sich, verstand man eine fremde Sprache als wäre es die eigene. Und so verstand Alea nun auch jede einzelne von Theas Gebärden ganz genau.
»Alea, wo bist du?«, fragte Thea ihr Spiegelbild. »Hörst du mich?«
Überrascht lächelte Alea. Offensichtlich hatte ihre Schwester ebenfalls versucht, sie telepathisch zu erreichen. Aber sie hatte die Augen dabei nicht geschlossen, sondern ihr eigenes Spiegelbild angeschaut! Alea fand, dass das eine ziemlich gute Idee war, wenngleich sie nicht einschätzen konnte, ob der Spiegel tatsächlich einen Unterschied bewirkte.
Theas Blick intensivierte sich. »Spürst du mich?«
Aleas Herz zog sich zusammen. »Ich spüre dich immer«, flüsterte sie, obwohl sie natürlich wusste, dass der Goldumhang kein Kommunikationsmittel war. Was sie sah, lag in der Vergangenheit.
»Die Magischen sind hinter uns her, und Orion dreht deswegen völlig am Rad«, begann Thea, zu erzählen. »Sie haben uns schon dreimal gefunden.«
Aleas Brauen hoben sich. Dann musste das, was sie sah, innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden passiert sein! Denn erst gestern hatten Magische Alea anvertraut, dass Orions Lager zum dritten Mal aufgespürt worden war.
Nächste Leseprobe: Der Gesang der Wale/Teil 2